Viele Führungskräfte begreifen es noch nicht als ihre Aufgabe, die Fähigkeit ihrer Mitarbeiter neue Aufgaben zu übernehmen, mit System zu entwickeln. Schade! Denn dies würde die Führungskräfte mittelfristig entlasten.
Fließtext: „Meine Mitarbeiter kann man in der Pfeife rauchen. Wenn ich denen eine Aufgabe übertrage, muss ich permanent korrigierend eingreifen.“ Solche resignativen Aussagen hört man oft von Führungskräften, wenn man mit ihnen unter vier Augen spricht. Dann stimmen sie häufig ein Klagelied an, dass sie sich im Arbeitsalltag oft im Stich gelassen fühlen. Doch nicht nur dies. Sie beklagen auch, dass sie an ihre Belastungsgrenzen stoßen – weshalb ihnen mittelfristig ein Burn-out droht.
Spricht man länger mit besagten Führungskräften, dann zeigt sich meist: Sie sind an dieser Situation teils selbst schuld. Denn sie übertragen immer wieder Mitarbeitern Aufgaben,
• ohne ihnen ausreichend Information zu geben, wie die Aufgaben zu erfüllen sind, und
• ohne sich vorab davon zu überzeugen, ob der Mitarbeiter die Aufgabe adäquat lösen kann.
Deshalb müssen sie regelmäßig unterstützend und korrigierend eingreifen.
Führungsaufgabe „Mitarbeiter entwickeln“
Ein weiterer Punkt zeigt sich in den Gesprächen meist: Die Führungskräfte betrachten es primär als ihre Aufgabe, das Alltagsgeschäft zu managen. Sie betrachten es aber nicht als ihre Aufgabe sicherzustellen, dass ihre Mitarbeiter die Kompetenz erwerben, neue Aufgaben zu übernehmen und weitgehend eigenständig zu lösen.
Diese Führungsaufgabe professionell wahrzunehmen wird aber in einer Zeit, in der sich die Arbeitsinhalte und -strukturen in den Betrieben immer schneller wandeln, zunehmend wichtig. Denn wenn sich die Kompetenz der Mitarbeiter nicht erhöht, stagniert die Organisation. Sie verliert also ihre Wettbewerbsfähigkeit, weshalb sie irgendwann vom Markt verschwindet.
Dass viele Führungskräfte ihre Aufgabe „Mitarbeiter entwickeln“ nur bedingt wahrnehmen, liegt auch daran, dass ihnen häufig das hierfür nötige Wissen und Können nicht vermittelt wurde. So liegt zum Beispiel in den meisten Führungskräfteentwicklungsprogrammen der Unternehmen der Fokus darauf, das operative Tagesgeschäft zu managen. Kaum behandelt werden dort jedoch Fragen wie:
• Wie kann ich die Entwicklung von Mitarbeitern fördern?
• Welche Stufen der Kompetenz-Entwicklung kann man bei den Mitarbeitern unterscheiden?
• Woran erkenne ich, auf welcher Entwicklungsstufe sich ein Mitarbeiter beim Wahrnehmen einer Aufgabe befindet? Und:
• Welche Art von Führung ist auf den verschiedenen Entwicklungsstufen angesagt?
Da viele Führungskräfte ein solches Entwicklungsmodell nicht verinnerlicht haben, fällt es ihnen im Betriebsalltag oft schwer, das adäquate Führungsverhalten zu zeigen.
Das Führungsverhalten dem Gegenüber anpassen
Paul Hersey, einer der Erfinder des Situativen Führens, unterscheidet bei der Fähigkeit von Mitarbeitern, Aufgaben zu lösen, vier Selbstständigkeitsgrad-Stufen. Diese seien kurz skizziert.
Angenommen ein Mitarbeiter erhält eine neue Aufgabe. Dann ist in der Regel seine Fähigkeit, diese eigenständig zu lösen, noch sehr gering, denn ihm fehlen das erforderliche Wissen und die nötige Erfahrung. Also muss seine Führungskraft ihn bei der Arbeit anleiten. Sie sollte dem Mitarbeiter also detaillierte Instruktionen geben, wie und mit welchen Zielen die Aufgabe zu erfüllen ist. Zudem sollte sie sein Vorgehen überwachen.
Angenommen nun, der Mitarbeiter macht sich so unterstützt ans Werk und sammelt erste Erfahrungen beim Lösen gewisser Teilaufgaben. Dann zeigt sich beim konkreten Tun oft: Die neue Aufgabe ist schwieriger als vom Mitarbeiter zunächst gedacht. Hieraus resultiert eine gewisse Ernüchterung, die zu einem Nachlassen der Motivation führt. Also ist nun seitens der Führungskraft ein anderes Verhalten gefragt. Sie muss den Mitarbeiter verstärkt motivieren und überzeugen. Das heißt, sie erläutert ihm Entscheidungen, erbittet Vorschläge und lobt Vorgehensweisen – selbst wenn diese nur teilweise richtig sind. Zudem trifft sie mit dem Mitarbeiter eine Vereinbarung über das Vorgehen.
Angenommen nun, der Mitarbeiter nimmt die Aufgabe weiter wahr. Dann entwickelt er allmählich ein Gespür dafür, wie er sie meistern kann. Er ist aber noch unsicher, wenn unvorhergesehene Ergebnisse eintreten oder situationsbedingt ein etwas anderes Vorgehen nötig ist. Dann fühlt er sich schnell überfordert. Also muss die Führungskraft nun erneut ein anderes Verhalten zeigen. Sie muss dem Mitarbeiter als Ansprechpartner und Ratgeber zur Seite stehen. Außerdem muss sie ihn ermutigen, eigenständig auch vom Standard-Vorgehen abweichende Lösungswege zu beschreiten und ihm hierüber ein Feedback geben.
Ganz anders sollte das Führungs- und Gesprächsverhalten wiederum sein, wenn der Mitarbeiter bereits eine gewisse Routine im Lösen der Aufgabe entwickelt hat und auch nicht in Panik gerät, wenn hierbei ein etwas anderes Vorgehen praktiziert werden muss. Dann kann die Führungskraft die Aufgabe loslassen. Sie kann diese also an den Mitarbeiter delegieren, was auch zu einer Entlastung der Führungskraft führt. Weiterhin sicherstellen muss sie aber, dass Zielklarheit besteht. Zudem muss sie die Leistung des Mitarbeiters überwachen – denn dies ist eine nicht-delegierbare Führungsaufgabe.
Führungskräfte sollten sich als Lernende verstehen
Wenn Führungskräfte die vier Selbstständigkeitsgrad-Stufen und die verschiedenen Führungsstile kennen, haben sie eine erste Orientierung, welches Verhalten im Kontakt mit ihren Mitarbeitern angemessen ist. Doch wissen bedeutet nicht können. Deshalb sollten Führungskräfte darin geschult werden, ihr Gegenüber und die Situation richtig einzuschätzen und mit ihren Mitarbeitern zielführend zu kommunizieren.
Das ist auch wichtig, weil sich die Arbeitsstrukturen in den Unternehmen gewandelt haben. In den tayloristisch organisierten Betrieben der Vergangenheit hatte jeder Mitarbeiter klar definierte und in seiner Stellenbeschreibung fixierte Aufgaben, und seine Führungskraft überwachte, wie kompetent er diese wahrnahm. Heute hingegen müssen die Mitarbeiter meist in Teams weitgehend eigenständig die ihnen übertragenen Aufgaben lösen. Das erfordert mehr Kompetenz von ihnen.
Auch die Rolle ihrer Führungskräfte wandelt sich hierdurch. Eine Kernaufgabe von ihnen wird es zunehmend,
• die Voraussetzungen für eine effektive Zusammenarbeit zu schaffen und diese zu moderieren und
• dafür zu sorgen, dass ihre Mitarbeiter auch morgen noch über die erforderliche Kompetenz verfügen, um ihre Aufgaben professionell wahrzunehmen.
Das setzt ein verändertes Verhalten und Selbstverständnis der Führungskräfte voraus. Sie müssen sich zunehmend selbst als Lernende verstehen.
Eine neue Führungskultur entwickeln
Ebenso wie ihre Mitarbeiter sollten auch Führungskräfte nach einer kontinuierlichen Verbesserung ihrer Leistung streben. Das setzt voraus, dass sie regelmäßig ihr Führungsverhalten hinterfragen. Das kann in Trainings und Coachings geschehen. Doch dies allein genügt in der Regel nicht. Denn das Ziel eines Unternehmens sollte es nicht sein, dass sich das Führungsverhalten einzelner Führungskräfte verbessert, vielmehr sollte in der gesamten Organisation eine neue Führungskultur entstehen. Also gilt es auch Foren zu schaffen, wo sich die Führungskräfte regelmäßig im Kollegenkreis über ihr Führungsverhalten austauschen und gemeinsam nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen. Denn nur dann verändert und entwickelt sich die Organisation.
Julia Voss
Zur Autorin: Julia Voss ist Geschäftsführerin des Trainings- und Beratungsunternehmens Voss+Partner, Hamburg (www.voss-training.de).